Der Tai-Chong-Punkt (LR3) befindet sich auf dem Lebermeridian zwischen der 1. und 2. Zehe, ca. 1 - 1,5 cm von der Trennung der Zehen entfernt. Der Punkt liegt jedoch nicht an der Oberfläche, sondern tief zwischen den Knochen.
Einmal, es war im August, machte ich eine Dienstreise nach Hong Kong und nutzte so die Gelegenheit, einen früheren Kollegen zu besuchen. 3 Jahre zuvor war er vom chinesischen Inland nach Hong Kong gezogen, um dort eine Privatpraxis aufzumachen. Ein Hong Konger Millionär, dessen Rheuma durch die Akupunktur-Methoden meines Kollegen geheilt worden war, sponserte die Praxis. Sie ist dort ziemlich bekannt geworden und alle Patienten sind wohlhabende Geschäftsleute. Die Privatpraxis befindet sich in einem zweistöckigen Haus in den Bergen. Jeder weiß, dass so eine Lage in der teuren Stadt Hong Kong fast unbezahlbar ist. Die Innenarchitektur ist in einem eher klassischen Stil gehalten. Es ist also eine wirklich gehobene Praxis.
Mein Kollege Wen An eilte mir entgegen, um mich zu begrüßen, verschwand dann aber gleich wieder. Sein Assistent sollte mir etwas Gesellschaft leisten. Ich trank Tee und merkte, dass ich zu einer ungünstigen Zeit gekommen war. Ich wollte gerade gehen, als Wen An auf mich zu rannte und sich mehrmals bei mir entschuldigte. Er sagte, er wolle mich am Abend einladen. Ich sagte scherzhaft: „Du hast so viele Patienten, dass Du ständig zwischen den Behandlungszimmern hin und her rennen musst!“ Er antwortete seufzend: „Ach wo! Obwohl, … da ist eine Patientin mit Beinschmerzen, bei der ich völlig ratlos bin.“ Ich kenne das Niveau meines Kollegen. Meistens brauchte er nur eine einzige Nadel und schon waren die Schmerzen an Rücken und Bein verschwunden. Was ist heute mit ihm los? Er sah, dass ich nicht ganz verstand, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Na mein Freund, kannst Du vielleicht einmal versuchen, sie zu behandeln? Sie ist eine wichtige Patientin von mir.“ Ich sagte: „Wenn Du ihr schon nicht helfen kannst, wie dann ich?“ Er bestand darauf: „Versuch‘s doch mal. Wenn Du sie auch noch behandelst, habe ich wenigstens eine Erklärung ihr gegenüber.“
Er führte mich also zum Behandlungsraum. Seine zwei Assistenten behandelten gerade die Beine der Patientin mit der Schröpfmethode. Ich ließ zuerst die Schröpfköpfe abnehmen und half dann der Kranken, sich aufzusetzen. Es handelte sich um eine etwas dickere Dame, die bereits die 50 überschritten hatte. Ihre Unzufriedenheit stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Mein Kollege stellte mich der Dame auf überschwängliche Art und Weise vor. Sie musterte mich streng und fragte: „Sind sie überhaupt kompetent?“ Ihr Misstrauen war unverkennbar, ihr Gesicht ausdruckslos.
Ich bin nur selten so unhöflichen Patienten begegnet. Trotzdem sagte ich lächelnd: „Sie sind ja nicht tot krank! Da braucht es keine grosse Heilkunst!“ Sie erwiderte: „Was wissen Sie denn schon, was ich habe?“ Ich versuchte, möglichst entspannt zu wirken und fuhr lächelnd fort: „Wenn ich erst einmal Ihren Puls gefühlt habe, weiß ich Alles.“
Ihre Gesichtsmuskeln schienen sich nun etwas zu entspannen, und sie hielt mir ihre Hände hin. Beim Fühlen ihres Pulses spürte ich, dass die Ader, die der Leber zugeordnet ist, straff wie ein Seil gespannt war. Die Ader für die Niere schlug nur sehr schwach, die Ader für Lunge und Blase war ganz in Ordnung. Ich sagte mit sehr sicherer Stimme: „Ihre äußeren Symptome sind die Schmerzen in den Beinen. Die Ursache selbst liegt aber nicht in den Beinen, sondern in der Leber. Sie wurden bestimmt zuerst verärgert und haben sich in der Nacht dann erkältet. Heute kamen dann die Schmerzen hinzu.“
Nachdem sie das hörte, fing sie gleich an zu lachen. Sie stimmte sofort zu. „Ja, genau! Gestern Nachmittag habe ich mich mit meinem Geschäftspartner heftig gestritten. Ich konnte abends nicht mal mehr was essen. In der Nacht hatte ich dann einen sehr unruhigen Schlaf. Ich spürte eine unglaubliche Hitze in mir und stellte die Klimaanlage auf sehr hohe Stufe. Heute Morgen war mein Bein eiskalt und es wurde so schlimm, dass ich nicht mehr laufen konnte. Auch Ihr Kollege teilte mir vorhin mit, dass ich Kälte abbekommen habe. Er hat mich mit Akupunktur behandelt, aber das hat gar nichts gebracht, das Schröpfen hat dann die Schmerzen nur noch verschlimmert!“
Ich tröstete sie: „Mein Kollege hat Alles richtig gemacht, nur wusste er nicht, dass Sie sich leicht aufregen. Deshalb hat er den „Ärger-weg-Punkt“ nicht akupunktiert.“ „Was? Es gibt einen „Ärger-weg-Punkt“? Erzählen Sie Märchen? Wo ist der denn?“ Diese starke Frau verhielt sich nun wie ein neugieriges Kind. Sie nahm meine Hand, um mich auf diese Weise zu bitten, ihr den Punkt zu zeigen.
Es gibt natürlich keinen tatsächlich so benannten „Ärger-weg-Punkt“. Was ich ihr zeigte, war ein Punkt auf der Oberschenkel-Innenseite, nämlich der sogenannte Yin-Bao-Punkt (LR9). Ich erklärte ihr: „Wenn Sie sich aufregen, spannt sich die Leber an. Das nennen wir normalerweise Leberfeuer. Zugleich wird auch der gesamte Lebermeridian davon beeinflusst. Das Leberfeuer stört den Blut- und Energiekreislauf (Kreislauf des Qi – vom Übersetzer). Dies bedeutet, dass das Bein nicht ausreichend mit Blut und Qi versorgt wird und sich deshalb nicht mehr gegen die Kälte wehren kann. Die kalte Luft der Klimaanlage nutzte die Gelegenheit aus, in Ihren Körper einzudringen. Kein Wunder, dass Ihr Bein jetzt weh tut. Gegen die Schmerzen am Bein schlage ich vor, dass wir die Stauung im Lebermeridian wegmassieren, damit Blut und Qi wieder nach unten hin weiterfließen können.
Ich ließ sie zuerst selbst den besagten „Ärger-weg-Punkt“ erspüren. Sie bemerkte dort einen harten Knoten. Mit meiner Handfläche massierte ich vom Yin-Bao-Punkt aus den Lebermeridian entlang nach unten. Zu Beginn schrie sie wegen der Schmerzen, aber schon nach zwei Minuten beruhigte sie sich wieder. Dann ließ ich sie das Behandlungsbett verlassen. Sie lief zwei Runden durch das Zimmer und machte anschließend sogar noch eine Kniebeuge. Die Schmerzen waren wie weggeblasen. In diesem Moment war sie überglücklich und lud mich sogar zu sich nach Hause ein.
Ich lehnte dankend ab, und begleitete sie zur Tür. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, fragte mich mein Kollege etwas verwirrt: „Ich habe bei ihr vorhin alle Punkte akupunktiert, die die Meridiane freimachen und die Kälte austreiben können, aber ihre Waden blieben trotzdem eiskalt. Du hast nur den Yin-Bao-Punkt massiert und ihre Füße wurden gleich warm. Wie kommt das?“
Ich erklärte ihm: „Ihr Schienbein war eiskalt, weil ihr Blut- und Energiekreislauf (Kreislauf des Qi – vom Übersetzer) nicht in Ordnung waren und die Stauung auf dem Lebermeridian lag. Du hast mit Intensität den Blasenmeridian freigemacht. Daraufhin hat sich der andere Meridian nur noch mehr angespannt. Das ist wie bei einem fest gespannten Seil, je fester du ziehst, desto fester spannt es sich. Wir müssen einen Knoten finden und in unserem Fall befindet sich der Knoten direkt am Yin-Bao-Punkt. Wenn wir diesen Knoten weichmassieren können, entspannen sich alle Meridiane.“
Abends traf ich mit Wen An auf ein Bier. Das war eine richtige Feier für ihn. Er sagte: „Ich habe viele Patienten, die eine kranke Leber haben. Weißt Du gute Lösungen?“ Ich hob das Glas und sagte: „Weniger saufen und sich nicht aufregen. Das ist die beste Lösung.“Herr Wu Qing Zhong hat in seinem Buch „Handbuch für den menschlichen Körper“ betont, dass man den Tai-Chong-Punkt (LR3) massieren solle. Das ist wirklich ein wertvoller Vorschlag. Das Massieren dieses Punktes kann Stauungen lösen und schlechte Laune vertreiben. Er ist auch sehr gut für die Pflege von Leber und Milz, auch ist er ein echter Schatz für Menschen, die sich oft aufregen. Er ist der wirkliche „Ärger-weg-Punkt“. Mit dieser Aussage verwirre ich Sie möglicherweise. Eben noch habe ich den Yin-Bao-Punkt als „Ärger-weg-Punkt“ bezeichnet und jetzt behaupte ich, dass der Tai-Chong-Punkt dieselbe Wirkung hat. Welcher ist nun der Richtige? Ich muss gestehen, dass es mir schwer fällt, dies zu erklären. Man muss wissen, woher die Krankheit kommt. In diesem Fall können beide Punkte den Ärger, die Aufregung oder die schlechte Laune beseitigen.
Blog-Info:
- Die einzelnen Meridiane und Akupunkturpunkte finden Sie unter "Meridiane A-Z".
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